Nachbericht: die 4. Reise durch die Spirituellen Räume

Ein radikales Bekenntnis zum Brückenbau

Bereits zum 4. Mal fand die traditionelle „Reise durch die Spirituellen Räume“ in Tulln statt. Sie war ein großer Erfolg, und etwa sechzig Teilnehmer ließen sich von Käpt’n Hido im „Tulli“ durch die Stadt fahren. Veranstalter waren erneut die „Spirituellen Brückenbauer“, eine einzigartige Kooperation zwischen den beiden katholischen, der evangelischen, der orthodoxen Kirchen in Tulln sowie der Tullner Moschee.

Anlässlich ihres fünfjährigen Bestehens stellte die Gruppe die Veranstaltung unter das Motto „Brücken bauen – auf Zukunft schauen“. Der Gedanke, dass alle Religionen dieser Welt den Auftrag haben, Brücken zu bauen, durchzog sämtliche Präsentationen und Vorträge des Abends. Gerade in der heutigen Zeit, die sich mehr um das Trennende kümmert, als auf Gemeinsamkeit zu achten, ist das von besonderer Wichtigkeit.

Während der „Reise“ betrachteten die einzelnen Glaubensgemeinschaften das Thema des Errichtens von Brücken aus verschiedenen gesellschaftlichen Blickwinkeln. Dank der wunderbaren Arbeit aller Beteiligten wurde der Abend zu einem großen und beispielgebenden Gesamtkunstwerk.

In der orthodoxen Kirche wurde – nach einer kurzen Präsentation von Geschichte und Inhalt des orthodoxen Christentums – der Kernauftrag aller Religionen behandelt. Dieser zentrale Auftrag verlangt, sich um das Miteinander zu kümmern und das Gemeinsame vor das Trennende zu stellen. Angesichts der heutigen gesellschaftlichen Situation wurde hierzu Franz von Assisi als Beispiel erwähnt, der verkündet hatte, dass Feindseligkeit, Extremismus und Gewalt ein Verrat an Gott seien – eine sehr aktuelle und wahrhaft starke Aussage!

In Sankt Severin wurde hervorgehoben, wie unerlässlich die Fähigkeit ist, sich in andere Menschen einfühlen zu können. Empathie ist das zentrale Bauelement der Brücke zwischen Menschen. Ohne diese Brücke ist Gemeinsamkeit nicht möglich. Der für die Pfarre namensgebende Severin von Noricum war hierin vorbildhaft. Er war ein tapferer Mann und ein Brückenbauer zwischen unterschiedlichen Kulturen. Während der Zeit der Völkerwanderung sicherte er durch sein Wirken den Frieden zwischen den Germanen, die das linke Donauufer erreicht hatten, und der schutzlosen römischen Zivilbevölkerung am rechten Ufer. Wie ihm das gelang? Durch aufmerksames Zuhören, durch Empathie, diplomatisches Geschick und Hilfeleistung, wo immer sie gebraucht wurde.

Die Moschee widmete ihren Vortrag den künstlerischen Formen, die den Brückenbau verbildlichen. Allen voran wurde das Werk von Ernst Degasperi behandelt, der in seinem Werk die Einheit der drei abrahamitischen Religionen – Christentum, Judentum und Islam – beschwor. Das sind drei Straßen, so sagte Degasperi, die alle in dasselbe Zentrum führen. Auch die Symbolik in der Moschee weist auf diesen Zusammenhang hin. Die für die islamische Kunst so typischen, ineinander verschlungenen Kreise bedeuten einerseits, dass jeder Mensch für sich genommen vollkommen ist. Denn der Kreis ist das Symbol der Vollkommenheit. Dass diese Kreise geometrisch ineinander verschlungen sind, bedeutet andererseits, dass kein Mensch allein, ohne die anderen, vollkommen sein kann. Menschen brauchen einander, um ein gutes Leben führen zu können. Dasselbe gilt für Religionen und ihre Unterschiedlichkeit. Denn diese eröffnet allen die Möglichkeit, voneinander zu lernen. Wechselseitige Unterstützung stärkt alle.

In der evangelischen Kirche wurde auf den Zusammenhang zwischen Religion einerseits und Politik andererseits eingegangen. Im Verlauf der Geschichte haben sich beide wechselseitig sehr stark beeinflusst. So ist etwa die Gleichwertigkeit aller Geschöpfe eine uralte Forderung der Bibel. Nach und nach setzte sich diese Auffassung in der Geschichte des Abendlandes politisch durch. Sie wurde grundlegend für die Aufklärung und für jene Gedanken, welche die Französische Revolution in die Welt trug. Diese Gedanken wurden entscheidend, sowohl für die amerikanische Verfassung als auch für die Formulierung der allgemeinen Menschenrechte. Und der erste Satz des deutschen Grundgesetzes lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. All dies und das darin enthaltene Gebot der Toleranz gegenüber Andersdenkenden wäre ohne die – oft missverstandenen – Grundlagen der Religion nicht denkbar geworden. Vordergründig mag Religion heute als Störfaktor erscheinen. Sieht man genauer auf ihren eigentlichen Kern, so eröffnet sich eine ganz andere Perspektive.

In Sankt Stephan begleitete das Vokalensemble Tulln die kurzen Vorträge. Brückenbau in der Musik und das Schlagen von Brücken zwischen den Generationen waren die Themen. Der Chor sang das „Locus iste“, „hier ist der Ort“ von Anton Bruckner. Denn es ist genau hier und genau jetzt, wo das Verbindende stattfinden muss. Das Verbindende, der Brückenbau, ist etwas, das gelebt werden muss. Insbesondere der Dialog zwischen den Generationen hängt von der Fähigkeit ab, einander zuzuhören und gemeinsam daran zu gehen, aus der Gegenwart eine Zukunft zu bauen, die allen nützt, niemanden vergisst und niemandem Gewalt antut.

Die letzte Station dieser „Reise durch die Spirituellen Räume“ war dem gelebten Miteinander gewidmet. Die Stadtgemeinde hatte die Teilnehmer zu gemeinsamem Gespräch und Austausch bei Speis‘ und Trank im Festsaal des Tullner Rathauses eingeladen. Dabei zeigte sich, dass die Veranstaltung einen Nerv getroffen hatte. Denn in einer Welt, die sich gerade dem Auseinander verschreibt, wird die Möglichkeit von Miteinander und erfüllendem gemeinsamen Gestalten kaum noch wahrgenommen. Der Mensch ist jedoch für Kooperation geschaffen. Jeder Hinweis auf die Möglichkeit von Miteinander und gelebtem Bau von Brücken wird deshalb als Labsal erfahren und stärkt die Zuversicht, dass Gemeinsamkeit nicht nur wichtig, sondern auch möglich ist. So dauerten die lebhaften Gespräche im Festsaal sehr lange, und erst spät in der Nacht kehrte jene nächtliche Stille in das Rathaus ein, in der das Erlebte des Tages nachwirkt.