Mit Gegensätzlichem umgehen lernen – so gelingt es!

Im Text wollen wir uns der Frage widmen: Wie kann das eigene Verhalten helfen mit Gegensätzlichem im engsten Umkreis von Familie, Freundeskreis und Arbeitsplatz umzugehen? Wie lässt es sich gelungen miteinander leben, obwohl Meinungen unterschiedlich sind?

Die Spaltung der Gesellschaft ist in vielen Bereichen traurige Realität geworden. Nicht nur durch den Umgang mit der Corona Pandemie, sondern auch durch zunehmende Veränderungen im Alltag durch Digitalisierung und andere gesellschaftliche Entwicklungen. Das Leben wird zunehmend komplexer. Werte und Normen des Zusammenlebens sind nicht mehr einfach zu erfassen und zu leben.

Ein kleines Beispiel dazu:

Meiner 15jährigen Tochter fällt auf, dass es auf einem Formular nur die Optionen „männlich“ und „weiblich“ gibt. Aus ihrer Sicht fehlt „nicht binär“. In ihrer Altersgruppe ist es vollkommen selbstverständlich, dass es Menschen mit unterschiedlicher Identität gibt und dies in allen Bereichen abgebildet sein sollte, während ich – Anfang 40 – das gar nicht im Formular als fehlend wahrgenommen habe. An sich alles noch kein Anlass für Spaltung. Kritisch würde es werden, wenn sie mein Verhalten als „ignorant“ oder „intolerant“ werten würde oder ich ihr Verhalten nicht ernst nehmen würde. Dann hätten wir gut Erde für einen Spalt zwischen uns ausgehoben!

So geht es uns derzeit mit so vielen Themen: Covid, Impfen, Medienkonsum, Klimawandel, Ernährung, etc.

Wir entfernen uns in dem Moment, wo wir „DU BIST NICHT OK“ denken.

Angst und Spaltung

Angst ist ein sehr starkes, menschliches Gefühl, das meist auf Basis von Unsicherheit aufbaut. Wir verstehen eine Situation nicht, wir kennen dazu keine Lösung oder wir fürchten etwas zu verlieren (Leben, Gesundheit, Hab und Gut) – glauben aber keine Handlungsoptionen zu haben. Der einzige Ausweg für Geist und Körper ist die Angst. Leider verstärkt diese unsere scheinbar ausweglose Situation und aktiviert Standardprogramme im Gehirn: Flucht, Angriff oder Erstarrung.

In Zeiten wie diesen können Unsicherheiten entstehen durch innere Fragen wie „Was ist noch richtig? Was ist falsch?“ (Der Wunsch eine komplexe Situation überschaubar zu machen), „Gehöre ich überhaupt noch dazu?“, „Bin ich ok und werde ich akzeptiert?“ (Der Wunsch nach Verbundenheit mit den Menschen um mich.), „Was kann ich glauben?“, „Wem kann ich vertrauen?“ (Der Wunsch nach Orientierung und Sicherheit). In jedem Fall trifft es Grundbedürfnisse von uns, die nicht erfüllt sind.

Spaltung entsteht in weiterer Folge, wenn wir aufhören verstehen zu wollen und das aus unserer Sicht „Andere“ ablehnen, wegstoßen, nicht wahr haben wollen oder gänzlich negieren. Wenn wir aufhören uns miteinander auseinander zu setzen, den Dialog abbrechen und dadurch auseinander driften.

Zur persönlichen Belastung wird es vor allem, wenn es dein eigenes Umfeld betrifft! Es ist nicht einfach, aber es gibt Wege durch das eigene Verhalten für ein entspannteres Miteinander zu sorgen.

Was dein Verhalten bewirken kann

Ein paar Anregungen, Ideen und Denkanstöße zum Ausprobieren.

Zuhören als Geheimwaffe

Zugegeben, es fällt nicht leicht sich in einem Gespräch zunächst nur auf das Gegenüber zu konzentrieren und mit der eigenen Meinung hinterm Berg zu halten, und doch ist die Fähigkeit gut zuzuhören so enorm hilfreich im menschlichen Zusammenleben. Gut zuhören heißt verstehen wollen, was der andere sagt, ohne eine Antwort oder ein Gegenbeispiel darauf finden zu wollen. Du kannst zuhören, indem du das Gehörte mit deinen Worten wiederholst, oder indem du Fragen zum Gehörten stellst, oder indem du einfach nicht unterbrichst, sondern den anderen reden lässt.

Dadurch wirst du mehr über dein Gegenüber erfahren, du wirst besser verstehen, worum es geht und du wirst selber weniger Interpretationen oder Geschichten zusammendichten. Dein Gesprächspartner wird durch das Gefühl gehört zu werden viel eher bereit sein auch deine Seite anzuhören. Zuhören und verstehen zu wollen heißt nicht einverstanden mit dem Gehörten zu sein, das ist ebenfalls wichtig zu bedenken. Du kannst damit auch nicht „verlieren“, wenn du dich auf ein tieferes Gespräch einlässt.

Wie hört man jemand zu, der so gänzlich anders denkt als man selbst?

Gerade wenn du feststellst dein Gegenüber (Familiemitglied, Freund, Arbeitskollegin) vertritt gänzlich andere Positionen und Meinungen als du, wäre es entscheidend in Kontakt und Begegnung zu bleiben. Unsere üblichen Reaktionen sind meist: erschrocken sein, vermeiden wollen, aus dem Weg gehen, dagegen reden und denjenigen in eine Schublade zu stecken. Doch genau dieses Verhalten drängt das Gegenüber immer mehr ins Abseits und reißt Gräben auf.

Stattdessen wäre es hilfreicher in Kontakt zu bleiben, Fragen zu stellen, verstehen zu wollen, aber auch deutlich und klar seine Bedenken zu äußern. Vielleicht gelingt es dir den Menschen losgelöst von seinem Verhalten zu betrachten. Dann entziehst du dem nahestehenden Menschen nicht generell deine Zuneigung (in welchem Ausmaß auch immer), sondern führst schwierige Gespräche auf Basis von unterschiedlich erlebtem Verhalten. Deine Beobachtungen (alles was du siehst und hörst) bieten eine bessere Grundlage für Diskussion als deine Bewertungen (was du ins Verhalten des anderen interpretierst und welche Wertung du ihm gibst).

Eine Art „Kochrezept“ für schwierige Gespräche habe ich in einem Artikel über Nachbarschaft dargelegt. Es gibt hier immer Grenzen zu beachten, aber mehr dazu ganz unten.

Schubladen vermeiden

Wie wir über Situationen sprechen und welche Begriffe wir verwenden, hat so viel Einfluss auf unser Zusammenleben. Ich konnte live erleben, wie es einem Kollegen ergangen ist, der öffentlich darüber gesprochen hat, dass er noch nicht geimpft ist. Sofort waren gängige Begriffe zu Hand und er war mit einem Marker versehen. Ich kenne ihn schon lange und weiß, dass er begeisterter Sportler ist, also habe ich den Kontakt zu ihm gesucht, um anders zu reagieren. Herausgefunden habe ich Bedenken über Auswirkungen auf seine körperliche Leistungsfähigkeit, Angst vor Nebenwirkungen, Unsicherheiten gegenüber den Wirkstoffen und ganz viel Verunsicherung, wie er in seinem Freundes- und Kollegenkreis gesehen wird. Es hat ihm gut getan nicht sofort einen Stempel zu bekommen, sondern ein Angebot weiterhin in Kontakt zu bleiben, zu erhalten.

In meinem Beispiel konnte mein Kollege besser handlungsfähig und gedanklich beweglicher bleiben, weil er sich freier und nicht in eine Schublade gesperrt gefühlt hat. Ich habe ihm keine Überschrift, kein Label gegeben, er war weiterhin Hans* für mich. (*Name wegen Vertraulichkeit geändert).

Gemeinsamkeiten suchen

Gerade wenn es schwierige Themen im nahen Umfeld gibt, hilft es den Tunnelblick auf das Negative zu verlassen und stattdessen zu überlegen, wo man noch übereinstimmt, wo man sich verbunden fühlt und wo Nähe entsteht. Erst kürzlich habe ich in der Familien Chat-Gruppe gebeten Corona Themen (Memes, Sprüche, Artikel, Links) sein zu lassen und nur Fotos und Nachrichten von Erlebnissen sich gegenseitig zu schicken. Der Fokus und das Gefühl waren sofort anders. Schwierige Themen können gut persönlich thematisiert werden, über digitale Medien kann schnell ein Flächenbrand entstehen, der nicht notwendig ist.

Aber auch im Pausenraum, am Mittagstisch oder beim gemeinsamen Ausflug mit Freunden, ist es möglich sich bewusst auf Verbindendes zu konzentrieren. Du kannst dich darauf vorbereiten und dir vorab ein paar Themen überlegen. Es ändert die Qualität der Beziehung, wenn diese nicht ständig auf das Trennende gerichtet ist.

Widersprüchlichkeit zulassen können

Blenden wir wissenschaftliche Fakten, bestätigte Sachverhalte und Tatsachenäußerungen aus, dann bleibt immer noch ein breites Feld an Interpretationsmöglichkeiten in unserer Welt übrig. Die menschliche Wahrnehmung ist sehr unterschiedlich und die Ecke, aus der wir das Geschehen vor uns betrachten, ist immer eine andere. Wir bringen Erfahrungen und Erinnerungen mit, wir haben unterschiedliche Dinge gelernt und konzentrieren uns auf unterschiedliche Aspekte – somit ist es nicht verwunderlich, dass wir uns permanent mit Widersprüchlichkeit auseinandersetzen müssen.

Unsere „übliche“ Reaktion darauf ist es meist „auf Wahrheitssuche“ zu gehen. Lass dich nicht davon stressen. Fast immer führen mehrere Wege nach Rom, gibt es mehr als eine Lösung oder ist es nicht schädlich, wenn zwei Meinungen neben einander stehen bleiben. Ganz oft geht es darum die Buntheit der Welt einfach stehen zu lassen, ohne die eine Wahrheit zu finden oder bis ans Ende der Kräfte über richtig und falsch zu streiten.

Die Widersprüchlichkeiten des Lebens anzuerkennen, diese verstehen zu wollen und sie in Dialog zu setzen, ist eine hohe Kunst!

Grenzen setzen

Verbindendes Verhalten hat Grenzen. Es ist schmerzlich und tut weh sich von nahestehenden Menschen zu verabschieden und den Kontakt schlussendlich doch einzustellen, doch wenn die eigene Belastung überhand nimmt, ist es gesünder sich selbst zu schützen.

Echte Verbundenheit kann nur entstehen bzw. gepflegt werden, wenn deine Angebote (zuhören, verstehen wollen, Gemeinsamkeiten suchen, offene Sprache, etc.) mit der Zeit auch auf Erwiderung, Respekt und gegenseitiges Interesse stoßen. Einseitige Offenheit funktioniert nicht und das darfst du auch klar zum Ausdruck bringen.

Zusammenfassung

Wir können uns jeden Tag dazu entscheiden unser Umfeld mitzugestalten, um der Spaltung entgegenzuwirken. Auch wenn Politik, Wirtschaft oder andere große Institutionen am längeren Hebel sitzen (würden), ist es entscheidend wie die kleinen Einheiten in Städten, Gemeinden bis hin zu Familien, Freundeskreisen oder beruflichen Teams miteinander umgehen. Oben beschreibe ich Verhaltensweisen, die zu einer offeneren Kommunikation führen können und somit unser aller Handlungsfähigkeit vergrößern können.

Das Klima, das wir uns gegenseitig „im Kleinen“ schaffen, hat Auswirkungen auf die Atmosphäre in Tulln!

Hier habe ich einen interessanten Artikel in der Wiener Zeitung gefunden, der zum Thema passt:
„Das erfolgreichste Mittel gegen Spaltung ist Begegnung“, ein Gastkommentar von Robert Schafleitner, Sprecher der Initiative „Act Now“

(Der Tullner Bürgermeister Peter Eisenschenk hat 2020 bei der ACT NOW Konferenz über Stadt des Miteinanders gesprochen und 2021 haben wir einen ACT NOW Workshop in Tulln durchgeführt.)

Diskussion

Kein einfaches Thema, wenn du dich mit anderen Tullnern darüber austauschen möchtest, nütze am besten unsere Facebookgruppe „Tulln – Stadt des Miteinanders“ oder schreibe uns eine Email.

Autorin: DI (FH) Stefanie JIRGAL

Stefanie Jirgal ist Projektleiterin der Initiative Stadt des Miteinanders. Aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit als Wirtschaftsmediatorin (Konfliktbearbeitung, Konfliktbeilegung, Streitkultur) hat sie viel Erfahrung mit Kommunikation in schwierigen Situationen und schreibt in diesem Artikel aus dieser Perspektive.

Wir unterstützen die Initiative #lasstunsreden: