Zurück ins soziale Leben, juhu oder auweiha?!

Ich schreibe diesen Text Anfang Mai 2020. Seit Monatsbeginn sind Ausgangsbeschränkungen aufgrund der Coronavirus Verbreitung aufgehoben, Geschäfte und Dienstleister dürfen unter strengen Auflagen wieder Kunden empfangen und das soziale Leben nimmt langsam wieder Fahrt auf. Es finden immer mehr Begegnungen im Kreis von Familien und Freunden statt.

Da stelle ich so manche Beobachtung an und habe meine Gedanken dazu, diese möchte ich heute mir dir teilen.

Gegenseitiges Verständnis wichtiger denn je!

Fakt ist, jeder von uns hat die Zeit der Ausgangsbeschränkungen anders erlebt. Nur ein paar Beispiele:

  • Mehr Arbeit vs. weniger Arbeit vs. gar keine Arbeit mehr
  • Komplette Isolation und Quarantäne vs. regelmäßiges Rausgehen wegen Beruf oder zum Einkaufen, sogar für Angehörige
  • Kinder im Home Office vs. keine Kinder
  • Home Office vs. nicht zu Hause bleiben können, weil kritische Infrastruktur
  • Freude über jeden Tag Netflix schauen, Garten pflegen und Haus zusammenräumen vs. Verzweiflung die Enkeln nicht mehr sehen zu können.
  • Allein sein genießen vs. Geselligkeit vermissen
  • usw.

Das einheitliche Bild „wie es uns geht“ oder „wie wir die Zeit erlebt haben“ gibt es somit nicht!

Du hast bestimmt auch deinen ganz persönlichen Weg hinter dir: was du erlebt hast, was du gefühlt hast, wie es dir gegangen ist. Genauso deine Nachbarn, deine Familie, deine Freunde – die Wahrnehmung ist jedesmal eine sehr subjektive.

In jedem Fall hat die Zeit ihre Spuren hinterlassen. Und diese dürfen wir jetzt nicht ignorieren oder wegwischen.

So wie du anders mit der Situation umgegangen bist, als ich oder deine Nachbarn, so wirst du jetzt auch anders wieder ins soziale Leben zurückfinden: Mal schneller, Mal langsamer, Mal selbstverständlicher, Mal vorsichtiger, Mal ängstlicher, Mal gut gelaunt, Mal ärgerlich, Mal gestresst, Mal tiefenentspannt.

Dafür ist jede Menge gegenseitiges Verständnis notwendig. 

Hilfreich finde ich den Umstand annehmen zu können, dass wir uns gegenseitig Zeit geben müssen. Wir werden nicht von heute auf morgen wieder so leben können, wie wir es bisher gewohnt waren. Wir werden neue Routinen entwickeln und neue Lösungen finden.

Ganz neue Erlebnisse

In meinem Umfeld beobachte ich, dass erste Zusammentreffen mit der Familie anstrengend sind, obwohl viel Freude da ist. Es gibt Menschen, denen das Gruppenerlebnis jetzt schnell zu viel wird und daher die Treffen kürzer ausfallen. Ich sehe, dass gesellige Leute viel mehr gelitten haben, als Menschen, die schon immer auch mal gern alleine waren.

Mir wird erzählt wie Bekannte einen schief anschauten, weil man auch im Freien mit Mund-Nasen-Abdeckung unterwegs war und sogar abfällig über einen redeten. Jugendliche aus meinem Bekanntenkreis machen sich schon jetzt Sorgen wie das mit der Schule sein wird, nicht nur wegen der neuen Lernsituation, sondern auch weil Masken nicht wirklich ein cooles Accessoire sind und Scham ein Thema ist. Klingt als Erwachsener vielleicht lächerlich, als pubertierender Mensch jedoch, mitten im Auseinandersetzen mit sich und seinem Körper, doch essentiell.

Oder Familien, die schon über eine lange Zeit mit ganz kleinen Kindern zu Hause sind. Kinder, die nicht verstehen können, warum sie die Großeltern nicht sehen bzw. die Großeltern sie nicht rauf nehmen wollen. Kleine Kinder, die sich auch schon nach ihren ersten Freunden sehnen und denen die Zukunft egal ist, weil sie im Hier und Jetzt leben. Aber auch hier: Familien, die die Öffnung von Schulen und Kindergärten nicht erwarten können und Familien, die ihre Kinder aus Sicherheitsgründen weiterhin zu Hause lassen wollen. Du wirst vielleicht ähnliche oder ganz andere Beobachtungen gemacht haben.

Sehr leicht wäre es nun den Streit übers „wer hat Recht?“ zu beginnen. Wer hat denn Recht? Derjenige, der weiterhin sehr vorsichtig agiert, Kinder zu Hause behält, nur die nötigsten Treffen wahrnimmt oder derjenige, der wie selbstverständlich mit Maske ausgerüstet seinen Alltag bewältigt, Freunde trifft und scheinbar normal lebt?

Uns Menschen fällt das Leben leichter, wenn wir Situationen in Schubladen einteilen können: das ist richtig, das ist falsch. Das derzeitige Leben lässt sich aber nicht standardisieren. Ganz im Gegenteil, das Erleben und das Bewältigen des Alltags sind sehr individuell gestaltet.

Du hast es in der Hand, wie du damit umgehen möchtest.

Es fällt uns vielleicht nicht auf, aber wir haben uns in der besonderen Zeit auch an bestimmte Umstände gewöhnt.

Vielleicht hast du die Ruhe genossen (weniger Straßenlärm, keine Feiern am Balkon des Nachbarn, kein Lärm vom Spielplatz, etc.) und dir fällt die Lautstärke nun dreimal so viel ins Gewicht wie zuvor?

Vielleicht war dir der leere Terminkalender doch ganz angenehm und du fühlst dich nun gestresst, weil sich alle wieder treffen wollen?

Vielleicht hast du in den letzten Wochen ohne Pausen gearbeitet, weil es notwendig war und erntest jetzt Unverständnis, weil du einfach nur alleine zuhause sein und Ruhe haben möchtest.

Egal welche Situation, es ist DEINE Entscheidung von welcher Seite du sie betrachten möchtest.

Bei lauteren Geräuschen aus dem Nachbargarten kannst du entweder ärgerlich über den Lärm werden oder dich freuen, dass es allen gut geht und die Kinder immer noch Spaß haben.

Bei Absagen von Familienmitgliedern für ein Treffen (weil sie vielleicht noch immer sehr vorsichtig sind), kannst du es entweder auf dich beziehen und beleidigt sein, weil sie dich nicht sehen wollen oder stolz sein, dass sie so sorgsam mit sich selbst umgehen.

Bei Einbruch deines Umsatzes deines Geschäfts kannst du entweder Wehklagen und den Staat anklagen zu wenig Hilfestellung zu geben oder dein Geschäftsmodell überdenken und Veränderungen vornehmen.

Wenn eine befreundete Familie ihre Sorgen mit dir teilt, kannst du sie entweder bemitleiden oder Mut zusprechen und Hilfe anbieten.

Du siehst, du hast immer eine Wahlmöglichkeit.
Du entscheidest immer selbst welchen Blick du auf die Welt haben möchtest. 

Ich wünsche dir gutes Gelingen bei deiner Rückkehr ins soziale Leben. Geh es langsam an und gib auch deinen Mitmenschen die Zeit, die sie brauchen. Das wünsche ich mir zumindest.

Autorin: Stefanie Jirgal, eingetragene Mediatorin und Projektleitung Stadt des Miteinanders